Dr Maria Mushchinina
Russland
Natalya Chepelyuk
„Er hofft, dass wenigstens Frau und Kinder auf ihn warten – und wenn nicht?“
Es ist eine Schlussszene wie in Casablanca: Eine Frau auf dem Weg zum Flughafen. Bleiben oder Gehen? Gehen würde heißen: zurück nach Russland. Wie sie sich entscheidet, bleibt offen. Die Szene aus dem dem russischen Film ist dramatisch untermalt mit dem Lied Po dikim stepjam sabaijkalja, oder auch Brodjaga, der Wanderer – Ausdruck der unerfüllten Sehnsucht nach zu Hause.
Maria Mushchinina hat Po dikim stepjam sabaijkalja oft gehört, das Lied ist bekannt in Russland, seine Verwendung im Film ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. Entstanden ist das Lied um 1880, also noch vor der Sowjetzeit. Es erzählt die Geschichte eines Gefangenen aus Sibirien, der aus der Kolonie flieht und nach Hause kommt, um festzustellen, dass auch dort nicht alles gut ist. Vermutlich war er ein politischer Gefangener, denn im Lied heißt es, er sei „geflohen in dunkler Nacht“ und habe „für die Wahrheit“ im Gefängnis gesessen. Denkbar ist auch, dass er zu Unrecht in Haft und ein Opfer der weit verbreiteten Willkürjustiz war. Ein politisch aufgeladenes Lied war Po dikim stepjam sabaijkalja dennoch nie. Es geht um Heimatlosigkeit, Sehnsucht und die bange Frage nach der Zukunft. Der Wanderer – gemeint ist im übertragenen Sinne der entwurzelte, getriebene Mensch – fragt nach Vater und Bruder: der eine tot, der andere in Sibirien inhaftiert. Er hofft, dass wenigstens Frau und Kinder auf ihn warten – und wenn nicht?
Das Lied ist in Dur geschrieben, mit seinen großen Intervallen und seinem erheblichen Umfang ist es breitschrittig. Dadurch entsteht der Sound eines typisch russischen Liedes, das die „russische Seele“ einfängt. Ein gemischter Chor oder ein Männerchor, der Po dikim stepjam sabaijkalja einstudiert, sollte dem Lied keine sentimentale Note verleihen, es darf massiv klingen.
Maria Mushchinina hat dieses und zwei weitere russische Lieder (Ach ty, step‘ schivokaja und Oj, pri luschku) für SingBar International ausgewählt. „Sie sind besonders gut für den Chorgesang geeignet, weil die Lieder aus dieser Tradition – anders als die älteren russischen Lieder – nicht so schwer zu harmonisieren sind mit westlichen Musiktraditionen“, erklärt Maria Mushchinina, die in Russland Musik und Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Volksmusik studiert hat und neben ihrer Tätigkeit als Dozentin für Sprachwissenschaft an der Universität Mainz und als Dolmetscherin auch als Pianistin konzertiert. Sie mag Musik jeder Art und komponiert selbst Lieder. Besonders gerne schreibt sie Lieder, etwa über Gedichte von Anna Achmatowa, für ihre Mutter, eine Konzertsängerin und Gesangspädagogin. Ihr musikalisches Talent haben die beiden Frauen an Marias Sohn weiter gegeben, der bereits erste Soloauftritte im Opernchor des Saarländischen Staatstheaters hatte.
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