Mungibeddu

Rosina Calcagno
Vorgeschlagen von:

Rosina Calcagno

Italienische Fahne
Lied eingewandert aus:

Italien (Sizilien)

Geschrieben von:

Gaetano Emanuel Cali

Martin Folz dirigiert
Chorfassung von:

Martin Folz

„Die Kinder sangen und tanzten es und schlugen den Rhythmus auf dem Tamburin: Tonchi Tichiti Tonchiti.“

Das Mädchen mit dem Tamburin

 Wer am Fuße eines Vulkans aufgewachsen ist, zieht von dort nicht freiwillig weg, mag der Berg auch bisweilen rumoren. Rosina konnte als Kind den Ätna vom Schlafzimmerfenster aus sehen, wenn sich der Morgennebel lichtete. Mungibeddu, das Lied vom schönen Berg, von den verschwenderisch fruchtbaren Hängen des Ätna, hat sie ein Leben lang begleitet. Es weckt in ihr die Sehnsucht nach Sizilien, der Insel der Orangen und Zitronen, der Farben, Düfte und Gesänge – der Insel, die sie unfreiwillig als junges Mädchen verlassen hat, weil der Vater und zwei Brüder bereits in Deutschland arbeiteten und die Familie wieder zusammen kommen sollte.

Noch auf Sizilien, als etwa Elfjährige, hat Rosina das Lied kennengelernt. Ihre Lehrerin hatte eine Kinderfolkloregruppe aufgebaut. Die Trachten hatten ihre Mütter genäht: weiße Bluse, vorne schwarz geschnürt, rosa Glockenrock mit lila Punkten und dazu weiße Kniestrümpfe. Mungibeddu gehörte schnell zum festen Repertoire, etwa bei Schulfesten, Straßenfesten oder beim Karnevalsumzug. Die Kinder sangen und tanzten es und schlugen den Rhythmus auf dem Tamburin: Tonchi Tichiti Tonchiti.

Die unbeschwerte Kindheit war vorbei, als Rosina, ihre Mutter und vier Geschwister auf dem Umweg über Livorno nach Deutschland zum Rest der Familie kamen. Angesichts der fremden Sprache fühlten sich die Kinder taub und stumm. Ob sie vielleicht ein Lied aus ihrer Heimat singen konnten?, fragte die Klassenlehrerin die schweigsame Rosina und ihre Schwester, als die Benotung im Fach Singen bevorstand. Und ob sie das konnten! Für ihr rhythmisches, italienisches Lied (es hieß Ho perduto il mio galletto) bekamen sie eine Eins – die erste, wichtige Anerkennung nach dem schweren, sprachlosen Einstand.

Mit 15 Jahren kam Rosina aus der Schule. Zehn Jahre schuftete sie als Hilfsarbeiterin, daneben lernte sie autodidaktisch die deutsche Sprache weiter. Beseelt von dem Wunsch, mehr zu erreichen, machte sie an der Abendschule die Schulabschlüsse nach. Sie wurde Krankenschwester, arbeitete, wurde Lehrerin für Krankenpflegeberufe und lernte weiter: am Abendgymnasium, Telekolleg und später an der Fernuniversität. Freiheit, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit – das sind Rosinas Lebensthemen, für die sie alle Energie und allen Mut, auch gegenüber Neidern, mobilisiert hat. Entstanden sind sie aus der Erfahrung, „dass die Männer alles durften, und wir Mädchen mussten ihnen die Hemden bügeln und die Schuhe glänzen“. Bis zu ihrer Pensionierung war sie nicht umsonst neun Jahre lang Frauenbeauftragte am Uni-Klinikum, wo sie 25 Jahre lang die Krankenschwestern und Krankenpfleger ausgebildet hat.

Heute drängen wieder andere Themen in den Vordergrund. Da stellt sich die Frage nach den Wurzeln und der Identität. Bei allem, was Rosina erreicht hat – das Gefühl von Heimatlosigkeit konnte sie nie abschütteln. „In Livorno waren wir die Sizilianer. Wenn ich nach Sizilien fahre, heißt es: „i Tedeschi“, die Deutschen. In Deutschland werde ich noch immer gefragt: ‚Sie sind doch nicht von hier, oder?‘“ Diese Erfahrung stimmt sie traurig. Bei der Beerdigung ihrer Mutter hat der Pfarrer gesagt: „Wir sind alle Fremde auf der Welt. Unsere eigentliche Heimat ist der Himmel.“ Mag sein, hat Rosina damals gedacht; aber es ist doch auch wichtig, hier auf der Erde ein Name, ein Eindruck, eine Figur zu sein.

Mit dem Alter und der neu gewonnenen Zeit nimmt die Musik wieder mehr Raum in Rosinas Leben ein. Sie schöpft dabei aus dem Vollen: Sizilien gilt als die Wiege des italienischen Volksgesangs. Über 5000 Lieder in sizilianischer Sprache sind bekannt. Liebe, Eifersucht, Trauer und Empörung über die Ungerechtigkeit sind die wichtigsten Themen, aus denen sich diese traditionelle Musik der ärmeren Volksschichten speist. Die Lieder von früher sind bei Rosina wieder ganz gegenwärtig. Tonchi Tichiti Tonchiti: Im Rhythmus von Mungibeddu pulsieren der Freiheitsdrang und die Unerschrockenheit des kleinen Mädchens mit dem Tamburin, das im Bannkreis des Vulkans groß und selbstbewusst wurde.

Noten für dreistimmigen Frauenchor

Noten für dreistimmigen gemischten Chor